Corona und darüber hinaus: Die Suche nach dem Breitbandmedikament

Dringend gesucht: Medikamente gegen Virus-Erkrankungen wie durch Corona. Das menschliche Protein TMPRSS2 könnte ein Ansatzpunkt sein

Gegen Viruserkrankungen gibt es verhältnismäßig wenige Medikamente. Wie problematisch das ist, hat die Corona-Pandemie gezeigt. Seither ist das Interesse an der Erforschung von Therapieansätzen weltweit gestiegen. Bei Viren, die die Atemwege infizieren, richtet sich das Augenmerk verstärkt auf ein Protein der Wirtszelle: TMPRSS2. Seine womöglich entscheidende Bedeutung wurde an der Universität Marburg entdeckt und wird dort nun noch intensiver erforscht.

Für Medikamente gegen Viren besteht eine spezielle Ausgangslage

Gegen bakterielle Infektionen helfen Antibiotika. Diese Arzneimittel-Wirkstoffe retten unzählige Menschenleben, weil viele von ihnen – zumindest derzeit noch – universell gegen zahlreiche Bakterienarten wirken. Etwas Vergleichbares ist bei Viren nicht in Sicht. Anders als Bakterien können sich Viren nicht ohne Hilfe ihrer Wirtszellen vermehren. Wer ein Medikament entwickeln möchte, das Viren stoppt, muss darum immer überlegen, ob ein entsprechender Wirkstoff womöglich auch den Wirt schädigt: bei SARS-CoV-2 also den Menschen.

Therapieansätze richten sich daher bevorzugt gegen das Virus direkt, so dass die Gefahr minimal ist, starke Nebenwirkungen bei Menschen auszulösen, die solche Medikamente nehmen müssen. Allerdings sind Viren so minimalistisch aufgebaut, dass die Auswahl der direkten Angriffspunkte gegen sie sehr begrenzt ist. Zudem wandeln sie sich sehr schnell und entwickeln Mutationen, die sie gegen die Arzneistoffe unempfindlich machen. Diese Resistenzbildung ist inzwischen auch bei Bakterien und zugehörigen Antibiotika ein enormes Problem. Bei Viren war und ist sie allgegenwärtig.

Ein Viren-Medikament, das vollständig heilt, ist die Ausnahme

Weil die Therapieforschung gegen Viren mehr Hürden auftürmt als die gegen Bakterien, ist es bisher nur bei einer Viruserkrankung überhaupt gelungen, Präparate zu entwickeln, die Viren im menschlichen Körper vollständig vernichten können und somit zu einer Heilung führen: bei Hepatitis C.

In der Corona-Pandemie wurde es jedoch offensichtlich, dass es trotz der erschwerten Ausgangslage notwendig ist, sich verstärkt um die Suche nach neuartigen Therapieoptionen für Corona-Viren zu bemühen. Nicht zuletzt, weil manche Personen nicht geimpft werden können oder weil sie eine derart schwache Immunantwort auf Impfungen haben – darunter viele Senioren über 80 Jahren –, dass dieser Schutz nicht ausreicht, um schwere Erkrankungen und Todesfälle möglichst zu verhindern.

Tatsächlich verfügen einige Forschungsgruppen bei Corona-Viren bereits über eventuelle Wirkstoffkandidaten, die beim Wirt ansetzen. Sie haben seit Jahren die Virus-Wirt-Interaktion untersucht und sind dabei unter anderem auf solche Hemmstoffe gestoßen. Diese Grundlagenforschung hat sich in der Pandemie als Pionierarbeit herausgestellt, auf die inzwischen weitere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zurückgreifen, so dass sich die Therapieforschung insgesamt intensiviert.

TMPRSS2: ein Rockstar unter den möglichen, neuartigen Therapieansätzen

Einer dieser als potentiell aussichtsreich geltenden Ansätze stammt aus dem Labor der Molekularvirologin Prof. Dr. Eva Böttcher-Friebertshäuser an der Universität Marburg. TMPRSS2 heißt das Protein, das in den Fokus gerückt ist – und dessen Entwicklung mit Mitteln des Pandemie Netzwerk Hessen vorangetrieben wurde. TMPRSS2 steht für „transmembrane Serinprotease 2“ (englisch: TransMembrane Protease Serine Subtype 2). Grundsätzlich sind Proteasen Enzyme, die andere Proteine spalten können. „Es hat sich herausgestellt, dass diese spezielle Spaltung ausschlaggebend dafür ist, dass das Corona-Virus sein Erbgut überhaupt in die Wirtszelle einschleusen kann“, berichtet Böttcher-Friebertshäuser1). Anders gesagt: Ohne TMPRSS2 gibt es keine Infektion und damit keine Erkrankung. Mehr noch: Gesunde Wirtszellen selbst scheinen ohne TMPRSS2 keinen Schaden zu nehmen.

Sogar ein vorbeugendes Viren-Medikament scheint durch TMPRSS2 denkbar

„Theoretisch scheint es daher möglich, ein Anti-Corona-Mittel zu entwickeln, das TMPRSS2 im Körper effektiv bekämpft, ohne dass man schwere Nebenwirkungen fürchten müsste“, fasst Böttcher-Friebertshäuser zusammen. Sogar eine Arznei, die man vorbeugend einnehmen könnte, scheint denkbar. „Wegen dieses Potenzials ist TMPRSS2 ist eine Art Rockstar für Corona-Forschende geworden“, sagt Böttcher-Friebertshäuser.

Auch einen Stoff, der TMPRSS2 hemmt, haben die Marburger Forschenden bereits gefunden. MI-1900 nennen sie die Substanz, deren Wirkstärke sie im Pandemie Netzwerk Hessen optimieren. Durch Variationen von einzelnen Teilen der Molekülkette arbeiten sie darauf hin, die notwendige Dosis von MI-1900 zu verringern.

Ermöglicht TMPRSS2 einen Wirkstoff gegen mehrere Atemwegsinfektionen?

„Interessant ist TMPRSS2 als Ansatzpunkt für eine Therapie auch deshalb, weil man damit nicht nur speziell SARS-CoV-2 bekämpfen kann, sondern offenbar grundsätzlich alle Corona-Viren, die den Menschen befallen“, erklärt Böttcher-Friebertshäuser. Und noch mehr scheint – zumindest theoretisch – drin zu sein: menschliche Grippe-Viren und noch weitere Erreger von Atemwegsinfektionen sind ebenso auf die Dienste von TMPRSS2 angewiesen. Im besten Fall könnte sich TMPRSS2 als Ansatz für ein Medikament herausstellen, das gegen mehrere Atemwegsinfekte hilft. Wie ein Breitbandantibiotikum gegen bakterielle Infektionen könnten es Ärzt:innen künftig bei vielen virusbedingten Leiden aus dem Medikamentenschrank holen.

Allerdings ist noch ein weiter forscherischer Weg zu gehen, um beurteilen zu können, ob sich die Erwartungen an TMPRSS2-Hemmstoffe wirklich erfüllen. Beispielsweise ist unklar, welche Funktion das Protein TMPRSS2 für Menschen hat. Das wäre jedoch eine wichtige Information, um sicherer zu sein, dass ein Arzneimittel, das TMPRSS2 ausschaltet, keine gefährlichen Nebenwirkungen hervorruft. Auch der Funktions-Frage geht die Marburger Arbeitsgruppe nach. „Wir haben erste Hinweise, dass TMPRSS2 vielleicht für die Abwehr von bestimmten bakteriellen Infektionen eine Rolle spielen könnte“, sagt Professorin Eva Böttcher-Friebertshäuser.

Besser verstehen, wie es Viren schaffen, auf Menschen überzugehen

Eine weite Aufgabe liegt darin, herauszufinden, wie wesentlich es für die Verbreitung bestimmter Viren ist, das menschliche TMPRSS2-Protein für sich parasitär zu nutzen. Trägt genau diese Fähigkeit dazu bei, dass es unter anderem Grippe oder Corona immer wieder gelingt, Vertreter hervorzubringen, die von Tieren auf Menschen überspringen? Oder fänden diese Viren auch alternative Eintrittspforten für die Infektion von menschlichen Zellen? Womöglich unterschiedliche Zugangswege in verschiedenen Gewebetypen, etwa in der Lunge oder in den Nasenschleimhäuten? Und wo im Lauf der Entstehung einer neuen Virusart finden solche Anpassungen statt? Noch im Tier oder erst im Menschen? Die Antworten könnten helfen, den Stellenwert von möglichen TMPRSS2-Hemmer-Medikamenten genauer zu beurteilen. Ebenso würden sie helfen, das Aufkommen von Pandemien grundsätzlich besser zu verstehen.

Mit Furin haben die Forschenden einen zweiten möglichen Ansatzpunkt im Visier

Die Forschenden um Eva Böttcher-Friebertshäuser nehmen solche Fragestellungen mit in das neue CoroPan-Schwerpunktprogramm. Dabei haben sie noch einen zweiten Pfeil in ihrem Köcher. Sie beschäftigen sich parallel zu TMPRSS2 mit einem weiteren menschlichen Enzym, das Corona-Viren für die Infektion zweckentfremden: Furin. Auch diese Protease braucht das Virus, um sein Spike-Protein nach dem Andocken an die Wirtszelle so verändern zu lassen, dass es in die Zelle eindringen kann. Auch gegen Furin hat die Arbeitsgruppe einen Hemmstoff parat und untersucht weitere grundlegende Zusammenhänge. Denn Furin benötigen nicht nur viele Atemwegsviren, sondern auch zahlreiche andere Erreger, die Menschen zu schaffen machen, wie die von AIDS, Ebola oder Dengue-Fieber.

Die Erforschung von Therapieansätzen gegen riskante Viren hat durch die Corona-Pandemie einen neuen Level erreicht. „Das ist gut und wichtig, um sich für künftige medizinische Herausforderungen durch Viren besser zu wappnen“, sagt Böttcher-Friebertshäuser.

Prof. Dr. Eva Böttcher-Friebertshäuser erforscht an der Universität Marburg, ob sich über die menschliche Protease TMPRSS2 Infektionen mit Corona-Viren verhindern lassen
Prof. Dr. Eva Böttcher-Friebertshäuser

© Rolf. K. Wegst

Hier zitierte Forschungsarbeit:

1) Bestle, D. et al. TMPRSS2 and furin are both essential for proteolytic activation of SARS-CoV-2 in human airway cells. Life Sci. Alliance 3, 1–14 (2020)

 

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